Unbestimmt lebt es sich länger

Haben Sie ein Kosmos-Bestimmungsbuch oder dergleichen bei sich im Schrank stehen? Eins, wo man durch die Farbe und Anzahl der Blütenblätter und die Position und Form der Blätter nach einem Schlüssel die Pflanzenart bestimmen lässt? Welch wunderbar katalogisierten Anschein es macht, wie eine klare Abfolge von wenn-dann Beziehungen. Vergessen Sie es!

Es gibt Pflanzen, die gerne unerkannt bleiben. Nicht nur, dass die Blattform je nach Umweltbedingungen des jeweiligen Habitats vom Kanon stark abweichen kann. So weisen beispielsweise Passionsblumen eine sehr starke Variabilität in der Blattform auf, sowohl zwischen den einzelnen Passiflora Arten, als auch innerhalb derselben Art. Der Grund hierfür ist nicht bekannt. Der Theorie von Janzen-Connell nach bevorzugen pflanzenfressende Insekten nämlich die typischeren Pflanzen, die sie anhand ihrer Blütenfarbe und -form erkennen und irgendwann als essbar identifiziert haben. Weniger bekannte Pflanzen – so besagt die Hypothese – sollen hingegen gemieden werden. Dies ermöglicht Neubesiedlern beispielsweise, sich überhaupt erst in einem neuen Habitat behaupten zu können, ohne gleich von der erstbesten Raupenschar aufgefressen zu werden.

Wenn Schmetterlinge eine geeignete Pflanze für die Eiablage suchen, so verhalten sie sich ähnlich, wie wir mit einem Bestimmungsbuch. Die Pflanze wird anhand ihrer äußeren Merkmale bestimmt. Dann nimmt der Schmetterling eine Geschmacksprobe, indem er auf der Pflanze landet und über die Geschmacksrezeptoren auf den Füßen abschätzt, ob sie seinen Raupen schmecken könnte. Schließlich dürfen auf der Pflanze vorher keine anderen Eier abgelegt worden sein, denn die älteren und größeren Raupen würden die Eier oder frisch geschlüpfte Raupen nur zu gerne fressen. Erst wenn alle Voraussetzungen stimmen, legt der Schmetterling seine Eier ab.

Der Fraßdruck durch die Zebrafalter (Heliconius) war schon lange dafür bekannt, verschiedene Abwehrmechanismen in Passionsblumen hervorzurufen. Einige machen sich durch Abwehrstoffe für die Raupen ungenießbar, andere haben so spitze Blatthärchen entwickelt, dass sie unvorsichtige Raupen einfach aufspießen können. Noch dazu die eingangs erwähnte Variabilität in der Blattform, die den Falter verwirren soll.

Forscher aus Cambridge und Panama gingen nun der Frage nach, ob der Zebrafalter eine bestimmte Blüten- und Blattform erlernt und sich von ihr für die Nahrungssuche bzw. Eiablage leiten lässt. Dazu wurden zwei verschiedene Versuche durchgeführt.

Im ersten Fall wurden den Faltern verschiedene künstliche Blüten mit unterschiedlicher Blütenblattanzahl präsentiert. Zunächst erwies sich die Blüte mit zwei statt der üblichen drei oder fünf Blütenblättern als am wenigsten interessant. Im zweiten Teil des Versuchs bekam die zweiblättrige Blüte einen Tropfen Zuckerwasser, während die anderen Attrappen leer blieben. Nach einer Woche Lernzeit wurde der ursprüngliche Versuch wiederholt. Und siehe da: die Zebrafalter flogen öfter zunächst zu der anfangs verschmähten zweiblättrigen Blüte, denn offensichtlich hatten sie diese inzwischen mit Futter assoziiert.

Dann ging es um die Blattform für die Eiablage. Ich habe nicht schlecht gestaunt, als ich die Versuchsdurchführung las. Zunächst entfernte man der Passionsblume sämtliche Blüten und Blätter, bis nur noch der Stängel übrig blieb, den man ins Wasser stellte. Dieser sollte durch seinen Geruch dem Schmetterling eine echte Pflanze vorgaukeln. Dann befestigte man auf dem Stängel Plastikblätter in der jeweiligen Testform. Eine Gruppe Falter bekam Passionsblumen zu sehen, deren Blattform der einer durchschnittlichen Passionsblume in der Region ähnelte. Eine andere Gruppe roch und schmeckte zwar den Stängel der Passionsblume, aber die Blätter hatten nichts mit dieser Pflanzenart gemein. Nach einer Woche gab man beiden Faltergruppen beide Varianten der künstlichen Passionsblume und zählte, wie oft sie welche Pflanze zur Eiablage anflogen. In diesem Fall näherten sich die Falter der Pflanze mit den fremdartigen Blättern zwar eher, wenn sie vorher darauf trainiert worden waren, landeten aber trotzdem schließlich auf dem altbekannten „naturähnlichen“ Blatt. Das zeigt zwar, dass unter den eingeschränkten Laborbedingungen, wenn der Falter seine bevorzugte Pflanze rasch findet, er auch dort die Eier ablegt. Flattert er aber frei herum, könnte es helfen, eine für die Eiablage als passend erlernte Pflanze rasch anzufliegen und zu besetzen. So kommen Passionsblumen mit bizarren Blättern zwar nicht immer um eine Familie gefräßiger Raupen herum, haben aber manchmal die Chance, von den penibel auf den Bestimmungsschlüssel achtenden Schmetterlingen nicht als solche erkannt zu werden. Es bleibt spannend, welche Form je nach Lernverhalten des Zebrafalters die Passionsblume weiterhin annimmt.

Quelle: Dell’Aglio DD, Losada ME and Jiggins CD (2016) Butterfly Learning and the Diversification of Plant Leaf Shape. Front. Ecol. Evol. 4:81. doi: 10.3389/fevo.2016.00081

Beitragsbild (Quelle): Blätter verschiedener Arten der Passionsblume, die in Gamboa oder in der Nähe des Soberanía Nationalparks in Panama vorkommen. Oben, von links nach rechts: P. ambigua, P. biflora, P. edulis; unten: Passiflora coriacea, P. menispermifolia, P. auriculata. Zebrafalter Heliconius erato petiverana bei der Eiablage auf P. biflora

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